Ein Dichter, der andere zu Dichtern macht

Nürtinger Zeitung über die Premiere von "Über den Eros"

Platons Symposion und die Folgen: Thomas Oser war im Zentralsaal dem Phänomen Eros auf der Spur

NÜRTINGEN. Uralt, und doch ewig jung geblieben. So stellte kürzlich Thomas Oser im Zentralsaal in der Stadthalle eine antike Vorstellung des Begriffs beziehungsweise Gottes Eros dar. Zur Ausleuchtung jenes Phänomens diente ihm und der ihn begleitenden Flötistin Amanda Chominsky der überlieferte Text jenes platonischen Trinkgelages, zu dem sich vor annähernd 2500 Jahren die Herren Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Alkibiades und Sokrates im Hause des Tragödiendichters Agathon trafen, um die eine oder andere Schale Wein zu leeren.

Jeder Teilnehmer an diesem Symposion war gehalten, eine Lobrede auf den Eros zu halten. Doch zuvor erläuterte Thomas Oser den Besuchern der Veranstaltung im Zentralsaal die Situation. Demnach hatten zu jener Zeit im antiken Griechenland die Lebensgemeinschaften von Männern und Frauen überwiegend funktionalen Charakter, fand Liebe im erotischen Sinn statt zwischen verdienten älteren Männern und Knaben an der Schwelle zur Männlichkeit, Pädophilie als gesellschaftlich geradezu geforderte Verhaltensnorm. Penetration sei allerdings, so Oser, wenn nicht verboten, dann doch zumindest verpönt gewesen.

Die Unbesiegbarkeit eines Heeres sieht der Feuerkopf Phaidros in der homophilen Orientierung im Sinne des "uralten Gottes" Eros, der in der zeitlichen Abfolge gleich nach dem Chaos und der dreibrüstigen Mutter Erde Gaia in die Welt gekommen sei. Damit nun scheint er der These von einer verdeckt homoerotischen Funktion aller Männerbünde doch einigen Vorschub zu leisten. Auch der auf blendende Weise vortragende Thomas Oser - er wechselte ganz nach Bedarf von der Rolle des Moderators in die des Rezitators - sah eine gewisse Beziehung, die von jener antiken Form der Protektion jüngerer durch ältere Herren auf die heute noch existierenden Studentenverbindungen weist.
Der Schock über die darin klar gewordene Aussicht, dass dieser Eros die Macht besitzen könnte, die Welt in Schutt und Asche zu legen, wenn die Soldateska nur aus liebenden und geliebten Männern bestünde, veranlasste den Arzt Eryximachos zu der Äußerung, dass es eben einen gesund machenden und einen krank machenden Eros gebe, worauf sich Aristophanes an jene Theorie erinnert, nach der Zeus die Menschen, als sie den Göttern das geistige Wasser der Überlegenheit abzugraben drohten, halbiert habe und sie so sehr damit beschäftigt seien, ihre Ganzheit in der geschlechtlichen Vereinigung zu suchen, dass die Götter im Olymp seither ihre Ruhe haben.

Hausherr Agathon, frisch bekränzter Tragödiendichter und jugendlicher Held, lobt daraufhin den Eros ob dessen ewiger Jugend, weil der beständig das Alter fliehe. Ein Dichter sei er, der andere zu Dichtern mache; zart auch, weil er auf dem weichsten Grund wandle, den es gebe, nämlich dem Gemüt und der Seele der Menschen. Für Thomas Oser spiegelt sich darin der heute angesagte Jugendwahn wider, der die Gesellschaft der westlichen Welt beherrsche.

Mit zurückhaltender, aber zielsicher angewandter Mimik und Gestik unterstreicht Thomas Oser während seines Vortrags das Pathos, das den redenden Figuren des Symposions eigen ist. Selbst dem später auftauchenden Helden der Athener, Alkibiades, verleiht er den ihm zustehenden Ausdruck. Der Kriegsmann ist zum Zeitpunkt seines Auftauchens im Hause Agathons bereits sturzbetrunken. Einzig Sokrates, der Philosoph des Wissens um das Nichtwissen, scheint in der Runde einigermaßen bei Sinnen zu sein und erkennt, dass der Eros von den bisherigen Rednern lediglich für eines jeden eigenen Zweck ins Feld geführt worden sei. Auf der Suche nach der wahren Natur des Eros erinnert er sich der Lehren einer gewissen Diotima, die ihn in die Dinge der Liebe eingewiesen habe. Die sah den Liebesgott, der den Menschen beibringe, eine richtige Meinung zu bilden, ohne sie begründen zu können, in Folge seiner Zeugung durch Poros und Penia (Armut und Reichtum) stets in der Mitte zwischen Weisheit und Torheit. Eros sei nicht die Liebe zum Schönen, sondern er bilde den Drang, "im Schönen zu zeugen".

Im Laufe der Nacht gerät das Gelage immer mehr aus den Fugen und ein Teilnehmer nach dem andern schläft ein, zuletzt auch Aristophanes und Agathon. Einzig Sokrates bleibt wach und macht sich in der Morgendämmerung aus dem Staub, um ein Bad zu nehmen.
Heinz Böhler