In der Seegrasspinnerei sprachen über das Älterwerden (von links) die Stuttgarter Autorin Professor Hannelore Schlaffer, Moderator Thomas Oser und die Nürtingerin Hildegard Ruoff, die mit ihren 85 Jahren nach wie vor künstlerisch aktiv ist. itt

In der Seegrasspinnerei sprachen über das Älterwerden (von links) die Stuttgarter Autorin Professor Hannelore Schlaffer, Moderator Thomas Oser und die Nürtingerin Hildegard Ruoff, die mit ihren 85 Jahren nach wie vor künstlerisch aktiv ist. itt

"Männer haben das Altern an die Frauen delegiert"

Nürtinger Zeitung über Café Seegras: "Sinn des Alters?"

Gut besuchte Schlussveranstaltung der Reihe „Alt“ in der Seegrasspinnerei - Gäste waren Hildegard Ruoff und Hannelore Schlaffer

NÜRTINGEN (itt). Es gibt Aussagen, die man am besten gleich vergisst, und Feststellungen, die man sich merken muss. Bei der am Freitag in der Seegrasspinnerei abgehaltenen Veranstaltung formulierte Hildegard Ruoff (85) einen Satz zum Merken. „Ich bin keine Rentnerin“, sagte sie, „ich bin Hildegard Ruoff.“ Sie wehrte sich entschieden dagegen, als Rentnerin abgestempelt zu werden. Dazu gibt es für sie keinen Grund. Wie sie es schafft? Ordnung ins Leben bringen und neugierig bleiben. „Ich bin ein unglaublich neugieriger Mensch.“ Der Tag sei ihr nicht lang genug. Und, „man ist nie zu alt für Premieren.“

Der gut besuchte Abend in der Seegrasspinnerei, nicht ein Stuhl war mehr frei, bildete den Abschluss der Veranstaltungsreihe zum Thema „Alt“. Zu Gast war neben Hildegard Ruoff die Stuttgarter Literaturwissenschaftlerin Professor Hannelore Schlaffer, die erst jüngst das Buch „Das Alter - ein Traum von Jugend“ veröffentlicht hat. Moderiert wurde das Gespräch von dem Journalisten Thomas Oser.

In 25 Jahren wird jedes dritte Gesicht, in das man blickt, das Gesicht eines älteren Menschen sein. Dem Menschen von heute sind 20 bis 30 Jahre mehr gegeben als dem Durchschnitt noch vor wenigen Generationen. Damit stellt sich die Frage, was mit der zusätzlichen Zeit anzufangen sei. Hannelore Schlaffer untersucht in ihrem Buch das Reden über das Alter von der Antike bis heute. Als Cicero sein Buch über das Alter schrieb, war er 63 Jahre alt, für die damalige Zeit ein sehr alter Mann. Er pocht darin auf die aus Erfahrung resultierende Weisheit, die sich gegen den blinden Tatendrang der nachwachsenden Generation zu behaupten hat. Nicht Taten sind Cicero das Wichtigste, sondern die Reflexion und die daraus resultierenden Entscheidungen.

Ein grundlegender Wandel stellte sich mit der französischen Revolution ein. Der Elder Statesman war jetzt nicht mehr gefragt. Das Ideal waren nun der junge Mensch und der Fortschritt. Fast gleichzeitig positionierte sich der Arzt mit seiner Definition des Alters. Waren vorher die jungen Leute genauso weggestorben wie die alten, so bildete sich durch den Fortschritt der Medizin allmählich das heutige Bild heraus. Hier die Alten, dort die Jungen, wobei die Männer den besseren Teil für sich wählten. Die Männer delegierten das Altern an die Frauen, wie Hannelore Schlaffer mit einiger Ironie feststellte. Dass dies zum Teil noch heute gilt, machte sie an dem Umstand fest, dass viele so genannte Führungskräfte ein zweites, drittes, viertes oder gar fünftes Mal heiraten.

Allerdings sieht sie aus zwei Gründen eine Änderung heraufkommen: einmal mit der Berufstätigkeit der Frau und außerdem mit dem Älterwerden auch der Männer. Sie sehen einander an und müssen feststellen, dass sie ebenfalls alt geworden sind. „Und umgehend wollen sie nicht mehr den Helden spielen.“ So beginnt nach dem Urteil der Schriftstellerin eine Feminisierung der Männer, „etwas nicht eigentlich Schlechtes“. Eine fatale Rolle spielt nach Überzeugung der Stuttgarter Autorin die Kosmetikindustrie. Sie projiziere Sinnlichkeit und Erotik auf Hollywoodstarlets und gaukle der Frauenwelt vor, dieses Ideal, das es im wirklichen Leben gar nicht gebe, ebenfalls erreichen zu können.

Die Kunst ist das einzige Element, das nie einen schalen Geschmack hinterlässt. Beide Frauen auf dem Podium plädierten für den stoischen Standpunkt, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen, Haltung bewahren und schon gar nicht verzweifelt gegen die Natur ankämpfen, einer gewissen Freundlichkeit den Vorrang gegenüber der Attraktion einräumen. War früher das Alter weitgehend in die eigenen vier Wände verbannt, gibt es heute selbst in einer Stadt wie Nürtingen ein enormes Angebot an kulturellen Veranstaltungen. Hildegard Ruoff: „Die Kunst kann unglaublich beglückende Gefühle bereiten.“ Die Lyrik etwa sei für sie ein Lebenselixier. Ausführlich wurde bei diesem Punkt auf die Schätze der Literatur eingegangen und als Musterbeispiel Bertolt Brechts „Die unwürdige Greisin“ herangezogen, ein Text, in dem erzählt wird, wie eine alte Dame nach dem Tod ihres Mannes ins Leben einsteigt.

Es gibt junge Leute, die alt sind, und alte Leute, die jung sind. An einer Stelle wurde das Älterwerden als Verlust des schönen Scheins definiert. Das Abgleiten in die Schattenwelt blieb nicht ausgespart: wie der Lebensraum letztlich kleiner und der Denkraum größer wird, bis schließlich die Ordnung auch in diesem Denkraum zerfällt.

Für die Musik, einen unerschöpflichen Quell intensiven Erlebens auch im dritten Lebensabschnitt, sorgte an dem Abend ein Streichquartett mit Instrumentalisten fast alle im Seniorenalter. Günther Romberg, Carola Künzer, Martin Brost und Inge Müller spielten Stücke von Juan Arriaga und Antonin Dvoák. Es gab Dank, Blumen und viel Beifall.