Zwischen Euphorie und Resignation

Nürtinger Zeitung über Café Seegras "Leben in Gemeinschaft"

Im „Café Seegras“ ging es dieses Mal um gemeinschaftliche Lebensformen

Nürtingen. Wie groß das Bedürfnis ist, anderen Menschen im Alltag und bei der Arbeit näher zu kommen, zeigte sich am vergangenen Freitag in der Alten Seegrasspinnerei in Nürtingen. Ungefähr fünfzig Menschen waren gekommen, um die dritte Ausgabe des Café Seegras, in der es um das Thema „Leben in Gemeinschaft“ ging, mitzuerleben. Der Moderator Thomas Oser hatte drei Gäste eingeladen, die sehr unterschiedliche Erfahrungen auf diesem Feld gemacht haben.

Seit zwanzig Jahren lebt Ingo Riethmüller in verschiedenen Konstellationen in Wohngemeinschaften, zurzeit in der Schellingstraße in Tübingen. Dieses Projekt ist aus einer Hausbesetzung Anfang der 80er-Jahre hervorgegangen. Heute leben dort 110 Menschen im Alter zwischen zwanzig und fünfzig Jahren in 13 größeren Gruppen zusammen. „Auch wenn ich morgens um halb drei nach Hause komme, finde ich noch jemand, der mit mir ein Bier trinkt“, sagte Riethmüller. Seit einiger Zeit sind die Kommunarden dabei, den Gebäudekomplex zu erwerben, um so billigen Wohnraum für Menschen, die „bunt wohnen“ und „anders leben“ möchten, dauerhaft zu erhalten.

Eher ernüchtert zeigte sich Christian Achnitz von seinen Erfahrungen in einem großen Wohnprojekt im französischen Viertel in Tübingen: „Wenn man zum siebten Mal am Tag die Tür öffnet und immer ist es jemand, der einen anderen sucht, dann nervt das schon“, stellte Achnitz resigniert fest. Auch hätte sich in seinem Haus gezeigt, dass die Menschen nicht wirklich offen für andere sind, sondern am liebsten unter sich blieben.

Auch deshalb ist er Anfang dieses Jahres mit Frau und Kind in eigene vier Wände eingezogen. Im französischen Viertels ist er allerdings geblieben: Dieser Stadtteil sei überaus lebendig und kommunikativ. Auch ziehe er Kinder und Jugendliche aus der Umgebung an, die hier in den vielen verkehrsberuhigten Zonen gerne spielten und umherstreiften.

Aus der Kleinfamilie heraus möchte dagegen Dorothee Riedel. Deshalb hat sie zusammen mit ihrem Mann vor einem Jahr die inzwischen zehnköpfige Gruppe WIR initiiert, welche bald in die ehemalige Volksbank in Reudern einziehen wird. Die euphorische Aufbruchsstimmung war der Mutter zweier Kinder, der es vor allem um eine naturverträglichere Lebensweise und um generationsübergreifendes Zusammenleben geht, an diesem Abend anzumerken.

Dass es aber schwer ist, die Anfangseuphorie am Leben zu erhalten, darin waren sich die drei Gesprächspartner einig. Es brauche ein klares Ziel, transparente Kommunikationsformen und Rituale, die die Menschen in der Gemeinschaft einander näher brächten. Wie Vertrauen, die über die Beziehung zum Lebenspartner hinausgeht, sei die zentrale Herausforderung einer jeden Gemeinschaft.

Dass andere Gemeinschaften hier bereits Pionierarbeit geleistet haben, zeigte ein Video von einer Gemeinschaft in Brandenburg. Im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) leben rund hundert Menschen zusammen. Die Kinder wohnen teilweise bei den Eltern und teilweise in einem eigenen Kinderhaus. Diese Gemeinschaft hat eine besondere  Kommunikationsform entwickelt: In einer großen Runde tritt immer ein Mitglied in den Kreis und redet von dem, was ihn gerade bewegt, während die anderen schweigen und mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei ihm sind. Dabei sind künstlerische Ausdrucksformen durchaus erwünscht.