Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema ist ein Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe „Alt“, die am Freitag eröffnet wurde. Foto: jh

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema ist ein Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe „Alt“, die am Freitag eröffnet wurde. Foto: jh

Ästhetik des Alters in künstlerisches Licht gerückt

Nürtinger Zeitung über die Eröffnung der Veranstaltungsreihe "alt"

Am Freitag wurde die Veranstaltungsreihe „Alt“ mit zwei Ausstellungen in der ehemaligen Seegrasspinnerei eröffnet.

NÜRTINGEN. „Alt werden will jeder, alt sein dagegen keiner.“ Dieser Satz wird Oswalt Kolle zugeschrieben, einem Sexualwissenschaftler, dessen Aufklärungsfilme in den 60er Jahren Furore machten. Ein „Plädoyer für ein neues Bild des Alters“ soll eine Veranstaltungsreihe der „Alten Seegrasspinnerei“ in der Nürtinger Plochinger Straße sein. Am Freitag eröffnete Thomas Oser gemeinsam mit Nürtingens Bürgermeister Rolf Siebert diese Reihe mit zwei simultan laufenden Ausstellungen und einem Bühnengespräch des Moderators mit der Tübinger Verlegerin Claudia Gehrke und der Kirchheimerin Brigitte Reich.

HEINZ BÖHLER
„Sechzig plus“ lautet der Titel der Ausstellung mit Fotografien der Berliner Starfotografin Anja Müller, die alte Menschen zeigen, die sich, wie Claudia Gehrke später im Gespräch mit Thomas Oser bemerken wird, offensichtlich wohl in ihrem (meist nackt gezeigten) Körper fühlen. Es ist also eines der Ziele der Veranstaltungsreihe, „Alt“ zu zeigen, dass zwischen den vom Jugendwahn dieser Gesellschaft gehetzten „jungen Alten“, die sich mit dem Eintritt in den Ruhestand längst nicht zur Ruhe setzen, sondern versuchen, den Alterungsprozess aufzuhalten, und den in Alten- und Pflegeheimen dahindämmernden „alten Alten“ eine Lebensphase gestaltbar sein könnte, die, mit genügend gesellschaftlicher Akzeptanz ausgestattet, durchaus ihre eigene Ästhetik und einen befreiten Umgang mit dem eigenen Körper und dessen sinnlicher Wahrnehmung zu entwickeln vermag.

„Alt zu erscheinen ist neuerdings eine Frage der persönlichen Schuld“, interpretierte Thomas Oser in seiner Begrüßungsrede die Reaktion der Gesellschaft auf den Ungehorsam gegenüber den Diktaten des alles beherrschenden Jugendkultes. Er zitierte den Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), Frank Schirrmacher, der in seinem Buch „Das Methusalemkomplott“ ein Horrorszenario entwirft, wonach wir, „wenn es uns nicht gelingt, das Altern des Menschen neu zu definieren, in eine Zivilisation der Euthanasie eintreten“ würden. Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken sei, so Oser, auch die Kunst gefordert. Darum beginne man in der ehemaligen türkischen Moschee mit einer Ausstellung von insgesamt zehn Künstlern, die sich, jeder auf seine Weise, mit dem Thema „Altern“ auseinander gesetzt haben.

Die Einführung in die Ausstellung der Arbeiten von neun Künstlern und Künstlerinnen aus der Region im ersten Stock des Gebäudes gab die Ulmer Kunsthistorikerin Christine Kunze. Ein Referat über die im Dachgeschoss installierten Schwarzweiß-Fotografien von Anja Müller („eine sehr sanfte und einfühlsame Person“) hielt Claudia Gehrke im Anschluss in der Kulturkantine.
Auf einen weniger erfreulichen Gesichtspunkt des zunehmenden Lebensalters der Menschen in einer Gesellschaft, die medizinisch so gut versorgt ist wie keine vor ihr, in der die meisten Menschen in Wohlstand leben und genug und gut zu essen haben, wies in seinem Grußwort Bürgermeister Rolf Siebert hin. Danach werde man, um die Sozialversicherungssysteme aufrechterhalten zu können, mit einer längeren Lebensarbeitszeit rechnen müssen. Außerdem würden, so Siebert, die Verpflichtungen jedes Einzelnen zur Eigenvorsorge nicht auf dem heutigen Niveau stehen bleiben. Andererseits habe aber die Stadt Nürtingen mit dem „Altenhilfenetzwerk“ ein, wie er sagte, „hervorragendes Instrument“ geschaffen, um Betroffene und Interessierte zusammenzubringen. Siebert versprach, sich dafür einzusetzen, dass „durch die Umstrukturierung der Sozialleistungsverwaltung freigewordene Personalkapazitäten für diesen Bereich dauerhaft zur Verfügung“ gestellt werden. Er bezeichnete die Arbeit der Veranstalter als verdienstvoll und wünschte der Reihe einen guten Verlauf.