Muße statt Wachstumszwang

Philosophisches zum Auftakt der Vortragsreihe „Forum zukunftsfähige Stadt – Nürtingen“ - Nürtinger Zeitung vom 29.10.2014

Wie kann sich die Hölderlinstadt zu einer zukunftsfähigen Kommune weiterentwickeln? Diese Frage stellt sich das „Forum zukunftsfähige Stadt – Nürtingen“, das am vergangenen Mittwoch in der Alten Seegrasspinnerei mit dem Vortrag von Thomas Oser in der Alten Seegrasspinnerei „über Lebensphilosophie“ erstmals an die Öffentlichkeit ging.

NÜRTINGEN (pm). Sven Simon, einer der Mitbegründer des Netzwerks, fragte zu Beginn des Vortrags provokant: „Warum landet das Brot beim Fallen immer auf der Seite mit der Butter? Warum ist der Kleiderschrank voll und doch hat man nichts anzuziehen?“ Fast ebenso schwer sei die Frage zu beantworten, warum es so wenig Freude mache, über Nachhaltigkeit zu sprechen, auch wenn der Begriff heute geradezu inflationär gebraucht würde. Viele dächten bei diesem Begriff wohl vor allem an Einschränkung und Verzicht – obwohl er damit wenig zu tun habe.

Denn ausgerechnet um Freude und Freiwilligkeit ging es beim ersten Vortrag der Reihe des Forums, die – in Kooperation mit der Volkshochschule – von Experten aus der Region bestritten wird und an wechselnden Orten in Nürtingen und Umgebung stattfindet. Wer sich Gedanken darüber macht, wie man die Zukunft gestalten möchte, komme nicht umhin, über die Antriebe und die natürlichen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu sprechen. Wie viel Wachstum brauche die Wirtschaft? Wie viel Wachstum erlaube die Natur? Diese Fragen stellte Thomas Oser zu Anfang seines Vortrages und unterschied zwei politische Strategien, wie die Kultur wieder in Einklang mit der „natürlichen Mitwelt“ gebracht werden könne. Die eine setze dabei vor allem auf ein „grünes“ oder „intelligentes Wachstum“, um ökonomische Entwicklung vom Verbrauch natürlicher Ressourcen zu entkoppeln. Dagegen hielten viele Wachstumskritiker „ein unendliches Wachstum“ in einer begrenzten Welt schlicht für unmöglich. Sie forderten eine Wirtschaft, die nicht auf immerwährendes Wachstum angewiesen sei.

Das Glücksempfinden hinkt dem Wachstum hinterher

Oser schlug sich erst einmal auf die Seite der Wachstumskritiker und zwar mit der These, dass der herrschende Wachstumszwang ein gutes menschliches Leben beeinträchtige. Wenn eine Gesellschaft glaube, ihr Glück hänge einzig und allein von wirtschaftlichem Wachstum ab, zeuge dies nicht von seriösem Fachwissen, sondern eher von Fantasielosigkeit, sagte Oser. So sei das Bruttoinlandsprodukt seit 1950 um das Vierfache gestiegen, während das Glücksempfinden der Menschen mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau geblieben sei. Eine Ursache könne das sehr flüchtige Glücksempfinden sein, das man bei der Mehrung materiellen Besitzes empfinde. Dieses motiviere einen dazu, durch ständig neuen Konsum ein neues Glück zu empfinden, auch wenn dies stets von relativ kurzer Dauer sei.

Der Stress des Wettbewerbs erschöpft die Menschen. Da materieller Konsum jedoch für die meisten Menschen wirtschaftliche oder natürliche physikalische Grenzen habe, sei dies eine Strategie, die nicht auf Dauer glücklich machen könne. Zumal die zunehmende Rastlosigkeit und der Stress des Wettbewerbs immer mehr Menschen erschöpfe, weil er eine wesentliche Lebensqualität verhindere: die Muße. „Muße“, so Oser, „ist dabei nicht zu verwechseln mit Faulheit, sondern im Gegenteil eine wesentliche Voraussetzung für Kreativität.“ Viele der größten Werke der Geschichte seien schließlich von Menschen geschaffen worden, die Zeit für Muße hatten. Nur wer Muße habe, könne die Schönheit wahrnehmen, beispielsweise in der Kunst und der Musik.

Dabei sei der ästhetische Genuss ein Genuss, der nicht flüchtig sei, sondern immer wiederkehre. Manchmal steigere er sich sogar von Mal zu Mal, wie etwa beim Genuss eines kraftvollen Musikstücks. Noch mehr treffe dies auf das Glück zu, das man empfinde, wenn man eine gute Zeit mit Menschen verbringe, die man liebe. All diese Gründe ließen es vernünftig erscheinen, über Wege aus der Wachstumsspirale nachzudenken.

Nach dem Vortrag entspann sich ein lebendiges Gespräch zwischen den Zuhörern, wobei auch konkrete Vorschläge gemacht wurden, wie Osers Gedanken in Nürtingen umgesetzt werden könnten. Um diesen Prozess weiter voranzubringen, lädt das Forum am Freitag, 7. November, um 17 Uhr zur „zukunftsfähigen Suppenküche“ in die Alte Seegrasspinnerei ein. Dort können dann Ideen und Projekte für Nürtingen vorgestellt und beraten werden.

Die Vortragsreihe selbst wandert dann am Mittwoch, 19. November, in die Freie Kunstakademie, wo Otmar Braune um 19.30 Uhr zu der Frage „Was kommt nach der Wachstumsparty?“ sprechen wird.