Der Andere – zwischen Vergötterung und Verdammung

Das denk-art-Café spannte einen Bogen von der Philosophie zum aktuellen Flüchtlingsthema

Nürtinger Zeitung und Nürtinger Stattzeitung im Dezember 2015

Eigentlich sind wir ja fast immer unter anderen: sei es in der Fußgängerzone, am Arbeitsplatz oder beim Frühstück mit der Familie. Dass wir aber mit Anderen zu tun haben, wird uns meist erst so recht bewusst, wenn wir mit Fremden zu tun haben, zumal solchen, die nicht unserer Kultur entstammen. Deshalb drehte sich das letzte denk-art-Café in diesem Jahr am vergangenen Sonntag in der Alten Seegrasspinnerei  mit dem Titel „Der Andere – zwischen Vergötterung und Verdammung“ auch um den Fremden.

Dabei lag es nahe auch unseren aktuellen Umgang mit den Flüchtlingen zu beleuchten. Auf diese Weise knüpfte das philosophische Café an den Vortrag "Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge?" an, der Ende November in Rahmen der Reihe "Forum zukunftsfähige Stadt - Nürtingen" im Rathaus stattfand.

Doch zunächst legte Thomas Oser zunächst einmal frei, wie unterschiedliche philosophische Strömungen den Anderen in den Blick nehmen: Exemplarisch stellte der Nürtinger Philosoph die Position des Existenzialisten Jean-Paul Sartre und die des Dialog-Philosophen Martin Buber gegenüber: Während Sartre – Oser zufolge – konsequent vom eigenen Ich ausgeht und deshalb den Anderen fast immer nur vermittelt aus der eigenen Perspektive wahrnimmt, setzt Buber bei der Beziehung zwischen mir einem Du an, wobei dann der Andere unmittelbar und direkt begegnet.

Die Unterschiede zwischen beiden Philosophen wurden augenfällig, als Oser ausführte, wie die beiden Philosophen das Phänomen des Blickes deuteten: Sartre räume zwar ein, dass der Andere, wenn er mich anblicke, mir direkt begegne, aber das sei für mich dann alles andere als angenehm. Vielmehr fühle ich mich dadurch ertappt, weil der Andere mich dann sehr eingeschränkt, nämlich ohne meine Potentiale betrachtet. Deshalb meine Sartre wird würden auf den Blick des Anderen mit Scham reagieren

Einen geradezu konträren Zugang zum Phänomen wählt Oser zufolge die Dialog-Philosophie: Diese gehe eben nicht vom einseitigen Angeblickt-Werden aus, sondern vom gegenseitigen Sich-Anschauen: Dieses sei mit die wahrhafteste dialogische Begegnung zwischen Menschen und zwar deshalb, weil sich hier zwei gleichberechtigt und über die Sprache hinaus begegneten.

An dieser Stelle wurde dann auch deutlich, was mit dem Titel der Veranstaltung gemeint war: Während Sartre in seiner Philosophie den Anderen, wenn er uns direkt begegnet, tendenziell verdammt, vergöttert Buber den Andere zwar nicht, sehe aber etwas Göttliches in ihm – genauer in der Beziehung zwischen Ich und Du.

Angewandt auf den Anderen als Fremden entspann sich sodann ein lebendiges und vielseitiges Gespräch unter den gut dreißig Gästen: Sind wir nicht hilflos unseren Projektionen ausgeliefert, wenn wir einem Fremden begegnen? Gibt es den „ungetrübten Blick“, also die vorurteilsfreie Begegnung mit einem Fremden?

Ein Gast plädierte dafür, dass man – frei von allen politischen oder ideologischen Konzepten – den Flüchtlingen einfach menschlich und auf Augenhöhe begegnen solle. Dadurch würden hinderliche Vormeinungen überwunden und man sehe den einzelnen Flüchtling nicht nur realistischer, sondern auch als ein gleichberechtigtes Du. Davon ausgehend könnte man überlegen, wie man sich darüber hinaus politisch engagieren wolle, um den Flüchtlingen auch im Allgemeinen zu helfen.

Besonders spannend wurde die Diskussion, als gefragt wurde, wie man die Bubersche Dialogik im kulturellen Austausch fruchtbar machen könne: Dürften wir dann noch weiterhin von unserer Leitkultur ausgehen und die Fremden beziehungsweise Flüchtlinge  danach bewerten, ob sie in diese passten. Müsste man nicht vielmehr einen Standpunkt zwischen den Kulturen annehmen und und bereit sein, sich im Austausch prinzipiell verändern zu lassen? Doch, so wurde eingewendet, seien dann nicht unsere Werte wie die Demokratie, das Grundsetz und die Frauenrechte beispielsweise in Gefahr?

Einig war man sich dagegen darin, dass man Fremde weder pauschal verdammen noch idealisieren solle. Die Flüchtlinge seien genauso Menschen wie wir, nicht besser, aber auch nicht schlechter. Schlecht und zu kritisieren seien dagegen die Umstände, die Menschen dazu zwingen zu uns zu kommen. Wünschenswert  seien dagegen Verhältnisse, die ermöglichten, in jedem Land der Erde ein menschenwürdiges Leben zu führen. Weil dialogische Begegnungen Freiheit und Gegenseitigkeit voraussetzten, könne es Ich-Du-Beziehungen zwischen uns und Fremden  erst auch dann wirklich geben.