Befreiung zum wahren Überfluss

Nürtinger Zeitung und Nürtinger Stattzeitung im Oktober 2015

Im philosophischen denk-art-Café ging es um das erfüllende Leben

Am Anfang des ersten denk-art-Cafés nach der Sommerpause stand ein Gedicht, das viele der Anwesenden noch aus ihrer Schulzeit kannten: „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer. Dass in diesen Versen aus dem Jahr 1882 viel Zündstoff für die aktuelle Diskussion um unsere Wachstumsgesellschaft liegt, kam wohl seinerzeit niemand in den Sinn.

Meyer beschreibt in seinem Gedicht einen Brunnen, dessen Wasserstrahl so üppig von einer zu nächsten Schale überfließt, dass zwischen ihnen ein Nehmen und Geben ist, bei welchem jede Schale „reich“ bleibt. Dieses poetische Bild stellt eine Vision von einem sozialen Überfluss dar, von dem wir heute in unserer Wohlstandsgesellschaft weit entfernt sind: In einer Brainstorming-Runde zu Anfang des Cafés in der Alten Seegrasspinnerei stellte sich nämlich heraus, dass der Überfluss, in dem die Wohlhabenden in den reichen Ländern heute leben, weitgehend an Überfluss an irgendwelchen Produkten ist, deren Nutzen mitunter auch noch zweifelhaft ist. Auf anderer Seite zeige sich ein Mangel an vielen Qualitäten, die für ein erfüllendes Leben zwingend erforderlich wäre – so lebten die meisten Menschen, auch wenn sie gut versorgt seien, in einem prekären Zeitnotstand. Der großartige technische Fortschritt habe nämlich aus scheinbar unerfindlichen Gründen letztlich nicht dazu geführt, dass wir für die wesentlichen Dinge des Lebens genug Zeit haben.

Der Philosoph Thomas Oser, der einführend auch auf den Vortrag „Wirtschaftswachstum als Selbstzweck“ von Christian Kreiß im „Forum zukunftsfähige Stadt – Nürtingen“ anknüpfte, stellte zu Beginn zwei Positionen gegenüber: Auf der einen Seite stünden die Überfluss-Befürworter wie zum Beispiel Peter Diamandis, die glaubten durch technische Innovationen und qualitatives Wachstum ließe sich der Überfluss in der Welt auch in Zukunft mehren. Auf der anderen die Überfluss-Kritiker wie der Ökonom Nico Paech, der in seiner Konzeption einer Postwachstumsökonomie für radikalen materiellen Verzicht plädiert, um die Umwelt zu schonen und zugleich mehr Zeit für die wesentlichen Dinge haben.

Oser schlug sich zunächst auf die Seite der Überfluss-Kritiker, zeigte aber zugleich auf, dass diese ihr stärkstes Argument, nämlich, dass unsere Überfluss-Gesellschaft einem gelingenden und erfüllenden Leben letztlich entgegensteht, nicht wirklich ausführen würden. Sie sagten zwar „Weniger ist mehr“, führten aber nur bruchstückhaft aus, worin dieses „Mehr“ letztlich bestehe.

Die Überfluss-Befürworter hätten, so Oser, insofern recht, als sie dem Menschen eine Sehnsucht und ein Streben nach Unendlichkeit zusprechen. Ihr Fehler läge nur darin, dass sie dieses Begehren auf pervertierte Weise zu befriedigen suchten – nämlich in Formen von materiellem Wohlstand, der nicht nur auf Kosten der Umwelt und auch der Armen der Welt gehe, sondern unser Leben letztlich gar nicht wirklich zu erfüllen vermöge.

Einer der rund dreißig Gäste merkte daraufhin an, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Menschen ein Lächeln sei. Dies war ein Sprungbrett für Oser zu Erfahrungen überzugehen, die uns wirklich glücklich machen – und nebenbei auch die Natur schonten und den Mitmenschen zugutekämen. Neben gelungenen zwischenmenschlichen Begegnungen verwies Oser dabei auf das Feld des Ästhetischen: Der Genuss von Kunstwerken, die einem wirklich was bedeuteten, liege nicht darin, dass man diese kaufe und konsumiere, es bedürfe vielmehr der Muße, welche auch eine subjektive Leistung sei. Wenn diese vollbracht sei, dann wäre ein Werk für uns im wörtlichen Sinne unerschöpflich, denn wir kämen mit unseren Entdeckungen nie zu einem Ende. Anders als der Konsum frustriere uns diese ästhetische Form eines endlosen Prozesses nicht, sondern beglücke uns vielmehr.

Oser nannte neben dem ästhetischen Glück auch die Liebe eine Erfahrung „wahrhafter Unendlichkeit“, welche vor allem das „Mehr“ darstelle, das die Überfluss-Kritiker meist nur zaghaft ins Feld führten. Diese Erfahrungen müssten aber, so Oser, ins Bewusstsein gebracht werden, damit wir eine wirkliche Chance hätten, aus dem Hamsterrad des endlosen Konsumierens und Arbeitens aussteigen und uns zum wahren Überfluss befreien zu können. Vielleicht habe, so Oser, der Dichter Conrad Ferdinand solche Weisen des Gebens und Nehmens in seinem Gedicht im Sinn gehabt.

Die Frage, ob das Wasser, von dem in Meyers Gedicht ja auch ganz konkret die Rede ist, nicht letztlich endlich bemessen und damit knapp ist, wurde am Ende mit einem Zitat von Mahatma Gandhi beantwortet: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse – nicht aber für jedermanns Gier.“

Quelle: http://www.nuertinger-stattzeitung.de/index.php?link=news_detail&selCat=25&nid=1742