Ein Wahlkämpfer mit Weitblick

Neben Leidenschaft brachte Winfried Kretschmann bei der Unterstützung für den Grünen Matthias Gastel auch nachdenkliche Töne ein - Nürtinger Zeitung, 20.09.2017, Von Uwe Gottwald

Als Thomas Oser am Montagabend die Veranstaltung mit Winfried Kretschmann beschloss, tat er dies mit einem Dank für „ein Gespräch in großer Korrektheit und mit viel Nachdenken“ auf Seiten des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Der kräftige Applaus in der bis auf den letzten Platz besetzten Nürtinger Kreuzkirche war die Bestätigung dafür.

NÜRTINGEN. Auch wenn Kretschmann gekommen war, um den Nürtinger Bundestagskandidaten von Bündnis 90/Die Grünen zu unterstützen, war vom üblichen Wahlkampfgetöse tatsächlich nicht viel zu hören. Gastel war da zuvor kämpferisch ans Rednerpult getreten und erläuterte das Zehn-Punkte-Programm seiner Bundespartei.

Weg mit den schmutzigsten Kohlekraftwerken und hin zu 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2030, eine nachhaltigere Mobilitätspolitik mit Elektrofahrzeugen ebenso wie mit mehr Bussen und Bahnen und eine nachhaltige europaweite Landwirtschaftspolitik forderte er, um Umwelt- und Klimaschutz entscheidend voranzubringen. Seine Partei wolle ein einiges Europa, das in Arbeitsplätze und Umweltschutz statt in Rüstung investiert.

Sozialpolitisch mache man sich für die Integration von Flüchtlingen stark und dafür, Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen, sage der Kinderarmut den Kampf an und wolle Alleinerziehende besser unterstützen, setze man sich für bessere Bildungschancen ein und fordere gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen. Die Freiheit und Bürgerrechte zu sichern gehe damit einher, Bedrohungen ernst zu nehmen und die Polizei gut auszustatten. Gastel entschuldigte sich für seinen kurzen Auftritt, doch sei ihm auch die Veranstaltung unserer Zeitung mit Erstwählern wichtig, die zeitgleich nicht weit entfernt am Obertor stattfand (Seite 17). Vor seinem Abgang bat er die Zuhörerschaft noch um ihre Stimmen am Wahlsonntag, und zwar auch um die wichtige Zweitstimme, wenn weiter ein Abgeordneter seiner Partei Nürtingen in Berlin vertreten soll, sei er doch auf einem guten, jedoch nicht sicheren Listenplatz.

Dr. Thomas Oser, der als Moderator gewonnen worden war, griff gleich die besondere Konstellation im Lande mit einer grün-schwarzen Koalition auf: „Der bayrische Ministerpräsident Seehofer meint, mit Ihnen würde er Politik machen können.“ Kretschmanns etwas scherzhafte Antwort zur Anspielung auf eine fehlende Koalitionsfähigkeit mancher Grünen im Bund: „Uns wäre es auch recht, wenn bei der CSU einige andere Personen in der Verantwortung wären, aber so ist nun mal Politik.“ Im Übrigen wollte er nichts auf Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, der grünen Doppelspitze für den Bundestagswahlkampf, kommen lassen: „Das sind beides Leute mit großer Erfahrung, denen man vertrauen kann.“ Woraus Kretschmann seinen Optimismus ziehe, die Grünen könnten drittstärkste Kraft im Bunde werden, wollte Oser wissen. „Weil wir als einzige Partei auch Fragen aufgreifen, die alle angehen, und zwar zum Klimaschutz“, kam die prompte Antwort.

Beim Thema Ökologie bricht die Leidenschaft durch

Und darüber konnte sich Kretschmann ereifern, sieht er doch eine besorgniserregende Entwicklung. „Die meisten politischen Fehler sind reparierbar, eine verfehlte Klimapolitik ab einem bestimmten Punkt nicht mehr.“ Dieser sei zum Beispiel erreicht, wenn der Permafrost beginne zu tauen und massenhaft klimaschädliches Methangas freigebe. Das gelte auch für das Abschmelzen der Polkappen. Das Eis reflektiere noch die Wärme, sei es aber erst einmal verschwunden, schreite die Erwärmung fort und das Eis komme auch nicht wieder, selbst wenn der Temperaturanstieg aufgehalten sei. Kretschmann hält es schon für skandalös, wenn sich andere Parteien angesichts dieser Bedrohungen um das Thema drücken.

Er verstehe die Sorgen wegen des Zuzugs an Flüchtlingen und dass dieses Thema dominiere, beteuerte Kretschmann, spannte aber auch da wieder den Bogen zu ökologischer und nachhaltiger Politik: „Bereits jetzt schon gibt es wesentlich mehr Klimaflüchtlinge als Flüchtlinge aus Krisengebieten, die Menschen verlieren ihre Lebensgrundlagen.“ Kretschmann sieht sich nicht als „Meister des Spagats zwischen Ökologie und Ökonomie“, wie es Oser formulierte. „Der Spagat ist vorbei, die Erkenntnis, dass beides zusammengehört, setzt sich durch, nicht nur in Deutschland“, so Kretschmanns Überzeugung. Ökologische Produkte hätten heute auch auf dem Weltmarkt die besseren Chancen. Und von der anderen Seite her gedacht: „Ökologie muss ökonomisch sein, um sich durchzusetzen.“

Kretschmann verteidigt seinen Kurs gegenüber der Automobilindustrie

Oser sparte die Kritik an der scheinbar zu großen Nähe Kretschmanns zur Automobilindustrie nicht aus. Dass er Widerspruch ernten werde, sei ihm klar gewesen, so Kretschmann. Doch davon abgesehen, dass zum Teil betrogen oder Gesetzeslücken ausgenutzt wurden, was er keineswegs entschuldige, müsse nun nach vorne geschaut werden und da heiße es, einen gewaltigen Umbruch zu meistern. Er nannte die fortschreitende Digitalisierung und den Einzug der Elektromobilität bei Automobilen wie auch bei öffentlichen Verkehrssystemen, was für die heimische Industrie Risiken, aber ebenso große Chancen biete. „In modernen Verkehrssystemen wird das alles miteinander vernetzt sein, da gibt es keine Trennung mehr, und die Entwicklung wird schneller fortschreiten, als manche glauben“, so Kretschmann. Um diese Entwicklung in die richtigen Bahnen zu lenken, habe er den Dialog mit der Industrie gesucht. Mitgestalten, statt hinterher Fehler bügeln zu müssen lautet dazu sein Credo, das er auch als Kritik an der jetzigen Bundesregierung verstanden wissen will.

Manche Publikumsfrage, auf Kärtchen eingebracht, hatte Kretschmann bereits im Gespräch beantwortet. Die Rente mit 67 hat für ihn Bestand, seine Partei spreche sich auch für eine garantierte Rentenmindesthöhe aus. Dem Datenschutz spricht er nicht nur eine abwehrende, sondern auch eine gestaltende Funktion zu. Abschließend von Oser zu seiner Nähe zu Glaube und Kirche und zu Traditionen gefragt, meinte Kretschmann: „Gute Traditionen lohnen sich immer, bewahrt zu werden, und der Glaube ist etwas Widerständiges in einer Welt, die alles nur nach dem Nützlichen bewertet.“

Foto: Dr. Thomas Oser (links) ließ im Gespräch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann auch unbequeme Fragen nicht aus. Foto: Holzwarth