Aufführungsprojekt mania (2008/09)

theater-existenziell
theater-existenziell

„manía"

aus der welt friedrich hölderlins

Am Freitag, den 19. Dezember 2008, ging die Uraufführung unseres Stückes über die Bühne - am Ende gab es euphorischen, lang anhaltenden Applaus. Auch die folgenden fünf Aufführungen waren stark. Gewiss, das Stück ist keine einfache Kost, dafür sehr direkt, kraftvoll und konfrontierend. Und wenn etwas an dem Resumee der Nürtinger Zeitung stimmt ("spannende Unterhaltung"), dann sicher nur das Attribut. Die gesamte Kritik findet sich in unserem Pressearchiv. Eine anschauliche Bescheibung des Stückes findet sich auch in der Kritik der "Nürtinger Stattzeitung" vom 24.1.09 - auch diese steht im Pressearchiv.

Eine Einführung in das Stück findet sich unten "Szenenplan und Hölderlinsche Texte" sowie unter "Essays" der Aufsatz "Anmerkungen zu Hölderlin". Wer einen filmischen Einblick haben möchte, schaue bei youtube vorbei:
Filmausschnitte von "manía" (Conny Vorbach).

Ankündigungstext:

manía - aus welt friedrich hölderlins

Mit seinem neuen Stück „manía“ gibt „theater existenziell“ Einblicke in die Welt des Dichters Friedrich Hölderlin. Der altgriechische Begriff „manía“ schillert, meint er doch sowohl den krankhaften Wahnsinn als auch die göttliche Begeisterung – er beschreibt damit treffend das Leben des in Nürtingen aufgewachsenen Poeten. Das Stück geht von Hölderlins Zeit im Tübinger Turm aus und beleuchtet von da aus seine Lebensgeschichte, in der seine Liebe zu Susette Gontard (Diotima) eine zentrale Rolle spielt. Auch seine Dichtung, in der er sowohl die Tragik der modernen Zeit als auch seine Vision einer alles verbindenden Liebe ausgedrückt hat, wird von vier Schauspielern, einer Sprecherin und einem Kontrabassisten in eine szenische Bild- und Bewegungschoreografie übersetzt. Nach dem großen Erfolg des Stückes „Bernarda und ihre Töchter“ im vergangenen Jahr ist dies die zweite gemeinsame Regiearbeit von Isabella Horváth und Thomas Oser.

Mit: Klaus Nägele, Meike Müller, Ulrich Eggert, Clemens Bregger, Raya Fraenkel, Helmut Grygiel sowie Niklas Deeg (Bass), Bertram Till (Projektionen) - außerdem wirkten mit: Jürgen Heier, Anke Kurz, Britt Ruf, María Alejandra Marín Echeverría, Andrea Kleinmann, Sally Motzer, Peter Waller, Hans-Jörg Lund.

Szenenplan und Hölderlinsche Texte

Szene eins

zeigt, wie Hölderlin im Turm bei Schreinermeister Zimmer untergebracht wird und dort alsbald mit seiner Innenwelt konfrontiert wird – einer Welt der Trennung, der verzweifelten Versuche nach Kontakt.


Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht.

Euch, ihr Lebenden auch, ihr hohen Kräfte des Himmels,
Wenn ihr über dem Schutt mit euren Jahren vorbeigeht,
Ihr in der sicheren Bahn! denn oft ergreiffet das Irrsaal
Unter den Sternen mir, wie schaurige Lüfte, den Busen,
Daß ich spähe nach Rath, und lang schon reden sie nimmer
Trost den Bedürftigen zu, die prophetischen Haine Dodonas,
Stumm ist der delphische Gott […]
(Der Archipelagus, 241f und 222ff)

Szene zwei

zeigt, wie Hölderlin sich an die geheimen Treffen mit seiner Geliebten Susette Gontard erinnert – immer ein Mal im Monat sehen sie sich im Garten der Frankfurter Bankiersgattin und Mutter von drei Kindern.

Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug?
Da wirs thaten, warum schröckte, wie Mord, die That?
Ach! wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns.
(Der Abschied, 1ff)


Szene drei

zeigt, wie Hölderlin in seine Kindheitswelt zurücksinkt – seine Mutter und sein Vater tauchen auf, erste Gespielen und schließlich auch die Geliebte.

Diotima! edles Leben!
Schwester, heilig mir verwandt!
Eh ich dir die Hand gegeben,
Hab ich ferne dich gekannt.
Damals schon, da ich in Träumen,
Mir entlockt vom heitern Tag,
Unter meines Gartens Bäumen,
Ein zufriedner Knabe, lag,
Da in leiser Lust und Schöne
Meiner Seele Mai begann,
Säuselte, wie Zephirstöne,
Göttliche! dein Geist mich an.
(Diotima (jüngere Fassung), 13ff)


Szene vier

zeigt, wie Hölderlin, nachdem er den Tod der Geliebten noch einmal durchlebt hat, erst in eine Welt „lebender Toter“, dann in eine schrill verrückte Welt flieht. Nach dem Tod von Ernst Zimmer pflegt ihn jetzt dessen Tochter Lotte Zimmer.

Ach! wo bist du, Liebende, nun? Sie haben mein Auge
Mir genommen, mein Herz hab' ich verloren mit ihr.
Darum irr' ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich
Leben und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.

Danken möcht' ich, aber wofür? verzehret das Lezte
Selbst die Erinnerung nicht? nimmt von der Lippe denn nicht
Bessere Rede mir der Schmerz, und lähmet ein Fluch nicht
Mir die Sehnen und wirft, wo ich beginne, mich weg?
Daß ich fühllos size den Tag und stumm, wie die Kinder,
Nur vom Auge mir kalt öfters die Tropfe noch schleicht,
Und in schaudernder Brust die allerwärmende Sonne
Kühl und fruchtlos mir dämmert, wie Strahlen der Nacht,
Sonst mir anders bekannt!
(Elegie, 51ff)


Szene fünf

zeigt, wie Hölderlin in einen „reinigenden Zorn“ gerät und so endlich seine erlittenen Erniedrigungen durch Herzog Carl Eugen, seine Mutter, Goethe und Susette Gontard und andere dämonische Mächte mannhaft begegnet. Zuletzt trifft er auf Diotima, eine Liebes-Meisterin.

Was schläfst du, Bergsohn, liegest in Unmut, schief,
Und frierst am kahlen Ufer, Geduldiger!
Denkst nicht der Gnade du, wenns an den
Tischen die Himmlischen sonst gedürstet
Kennst drunten du vom Vater die Boten nicht,
Nicht in der Kluft der Lüfte geschärfter Spiel?
Trifft nicht das Wort dich, das voll alten
Geists ein gewanderter Mann dir sendet?

Schon tönets aber ihm in der Brust. Tief quillts,
Wie damals, als hoch oben im Fels er schlief,
Ihm auf. Im Zorne reinigt aber
Sich der Gefesselte nun, nun eilt er,

Der Linkische; der spottet der Schlacken nun,
Und nimmt und bricht und wirft die Zerbrochenen
Zorntrunken […]
(Ganymed, 1ff)


Leuchtest du wie vormals nieder,
Goldner Tag! Und sprossen mir
Des Gesanges Blumen wieder
Lebenatmend auf zu dir?
Wie so anders ist’s geworden!
Manches, was ich trauernd mied,
Stimmt in freundlichen Akkorden
Nun in meiner Freude Lied,
Und mit jedem Stundenschlage
Werd ich wunderbar gemahnt
An der Kindheit stille Tage,
Seit ich Sie, die Eine, fand.
(Diotima (jüngere Fassung), 1ff)


Io! du! in Feuer wandelnd!
Chorführer der Gestirn` und geheimer
Reden Bewahrer!
Sohn, Zevs Geburt!
Werd’ offenbar!
(aus dem Dionysos-Chorlied der "Antigone" (Übersetzung Hölderlin)

Anmerkungen zu Hölderlin - anlässlich des manía-Projektes (2008)

Ende des 18. Jahrhunderts suchte Hölderlin (1770 - 1843) nach einem Stoff für ein Drama. Letztlich kam er auf den alten Sizilier Empedokles, der seinem  Leben bewusst ein Ende setzte, indem er sich in den Ätna stürzte. Der antike Philosoph und sein Schicksal interessierte Hölderlin aber nicht an für sich; er glaubte vielmehr an diesem „fremden analogischen Stoff“ zeigen können, was in seiner Zeit für eine „gänzliche Umkehr“ der Verhältnisse erforderlich war. In ähnlicher Weise benutzen wir in unserem manía-Projekt das Leben und die Dichtung Hölderlins als Stoff. Wir wollen an diesem zeigen, was in unserer Zeit Not tut, damit Menschen in ihre wirkliche (Liebes)kraft kommen. Und eben deshalb gehen wir zwar von historisch-biografischen Fakten, literaturwissenschaftlichen Deutungen und vor allem von Hölderlins Dichtung selbst aus und lassen uns davon zu szenischen Bildwelten inspirieren – letztlich aber nehmen wir uns die Freiheit, mit all dem so umzugehen, damit das, was heute virulent ist und ansteht, erfahrbar wird.

Im manía-Projekt geht es um verschiedene, jedoch miteinander zusammenhängende Aspekte: zunächst einmal um den Wahnsinn (manía) mit seinen Abgründen und Potentialen. Auf dieser Folie nehmen wir Hölderlins brieflichen Aufruf an seinen Halbbruder „dass wir Männer werden“ ernst und suchen nach Lösungsansätzen. Und eben deshalb erforschen wir auch Hölderlins Beziehungen zu den Frauen, insbesondere zu seiner Mutter und zu seiner Geliebten Susette Gontard, die er in seinem Briefroman „Hyperion“ und in zahlreichen Gedichten zur Idealfrau („Diotima“) stilisierte. Weiterhin fragen wir uns, inwiefern das, was Hölderlin als das Tragische seiner Zeit erkannt hat, auch heute noch gilt – nämlich: „dass wir ganz stille in einem Behälter eingepackt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn“. Und schließlich: Wie ist Hölderlins Hoffnung auf eine „künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird“ einzuschätzen mitsamt seiner Vision einer in der Liebe sich verbindenden Menschheit?

„manía“ in der griechischen Antike

„manía“ ist ein altgriechischer Begriff und meinte zunächst bei Homer nichts anderes als „rasen“, „unkontrolliert toben“ und „von Sinnen zu sein“. Diese affektiv-chaotischen Zustände der homerischen Helden wurden meist hervorgerufen durch tiefe Kränkungen, Verletzungen, überhaupt durch Extremsituationen in Krieg und Liebe. Erst mit den Tragikern im fünften Jahrhundert kam die Frage nach dem Krankhaften dieser Zustände ins Spiel. Und interessanterweise zugleich damit wurde danach gefragt, inwiefern die Götter – allen voran Dionysos - damit etwas zu tun hätten – genauer: ob und in welchen Fällen sie ihren menschlichen Schützlingen die manía zur Zerstörung oder Erhebung schickten. Diese Frage beantwortete Platon dann so, dass er philosophisch zwei Formen der manía unterschied: den durch menschliche Krankheit und den durch göttliche Gabe verursachten Wahnsinn. Und vom „göttlichen Wahnsinn“ behauptete Platon, dass durch ihn den Menschen die bedeutendsten Güter zuteil würden: In ihm ereigne sich nicht nur alle große Kunst – wie auch alle Einweihung und Inspiration - , sondern auch die eigentliche Liebe (Eros). Platons Theorie des Wahnsinns prägte die abendländische Kultur bis zur Zeit Hölderlins. Vor allem die Renaissance griff diese Gedanken auf und sprach nun von „furor“: „eroico furore“ und „furor poeticus“ galten als ekstatische Dynamiken der Inspiration und Begeisterung, in denen der Mensch sich der göttlichen Schönheit nähert.

Hölderlins manía-Konzept

Für unser Projekt lag es deshalb nahe, den altgriechischen Begriff für Wahnsinn zu verwenden, weil sich Hölderlin von seiner Zeit in der Nürtinger Lateinschule bis zu seinem Tod im Tübinger Turm mit der antiken Tradition auseinandergesetzt hat. Hatte er diese zunächst – vor allem das geistige und politische Leben in der athenischen Polis – als ein Ideal gesehen, dem es unter modernen Bedingungen nachzustreben gelte, so erkannte er nach und nach auch ihre schillernde Ungeheuerlichkeit, die sich im „heiligem Zorn“ und eben auch in der manía ausdrückte. Hölderlin kannte zwar auch die beiden von Platon beschriebenen Formen der manía – doch von einer feinsäuberlichen philosophischen Trennung hielt er nichts: Bei ihm schlagen gerade in der Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen blinder Zorn und göttliches Ergriffensein wild ineinander. Diese Begegnungen haben nichts gemein mit sentimentalen Erbauungs- und Erweckungserlebnissen, schon gar nichts mit dem esoterischen Gerede vom „Jetzt“; sie sind vielmehr Momente der höchsten Ungeheuerlichkeit, der Blitzschlag „absoluter Gegenwart“, bei der der Mensch sich an nichts Gewohntes, aber auch nichts Erhofftes oder Erträumtes mehr halten kann – „eine gänzliche Umkehr“ ereignet sich, bei der ungewiss ist, ob sie zu etwas wirklich Neuem führt oder in den Untergang, die „Wildnis“. Auf der Strecke bleibt in Hölderlins Werken dabei auf jeden Fall das Individuum, das sich dieser Begegnung stellt.

Hölderlin im Turm


Auf der Strecke blieb auch der historische Hölderlin: Er verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens bis zu seinem Tod, also von 1807 bis 1843, entmündigt beim Schreinermeister Zimmer im Turm über dem Neckar - die letzten Jahre dann gepflegt von dessen Tochter Charlotte. Dort spielt auch unser Stück. Ob Hölderlin nun tatsächlich verrückt war oder nicht, interessiert uns weniger. Sicher ist nur: Er war auf Pflege angewiesen, seine große Liebe war gestorben (Susette Gontard starb 1802 wohl auch an den Folgen der Trennung von ihm), sein poetisches Schreiben, das er nach wie vor fast manisch betrieb, hatte nicht mehr die Kraft der früheren Zeit und – damit einhergehend – seine geschichtliche Hoffnung auf eine „gänzliche Umkehr“ war erloschen. Gemessen zumindest an seinen früheren Ansprüchen (vielleicht hatte er ja im Turm andere) kann man ihn somit als einen Gescheiterten auf der ganzen Linie sehen. Bei diesem Befund klammern wir die Frage ein, wer daran Schuld hat – er selbst, die Mutter, die gesellschaftlichen Verhältnisse oder die Gene. Wir interessieren uns für die Potentiale, die in dem Hölderlin-Stoff für unsere Zeit liegen. Wir pathologisieren Hölderlin nicht, wir mystifizieren ihn aber auch nicht, wir nehmen ihn mit seinen Ansprüchen und Hoffnungen einfach nur ernst und fragen mit ihm weiter. So gehen wir also vom (gescheiterten) Hölderlin im Turm aus und zeigen, wie er – freundlich aufgenommen - bei den literarisch interessierten Zimmers im Turm lebt – und wie assoziative Bildwelten seiner früheren Dichtung vermengt mit biografischen Einsprengseln in ihm auftauchen und ihn zunehmend umtreiben.

Therapeutisches Schreiben – und dann?

Hölderlin prägte selbst einmal für seine schriftstellerische Arbeit den Begriff der „idealischen Auflösung“; er meint damit ein dichterisch gestaltetes Erinnern, durch welches ein geschichtlich-revolutionärer Umbruch nachträglich in ein übergreifendes sinnhaftes Geschehen eingebunden werden soll. Etwas Ähnliches – nur mehr auf individualpsychologischer Ebene – unternimmt Hölderlin schon im „Hyperion“: In diesem stellt der Erzähler Hyperion – erinnernd und Briefe schreibend – sich seinen biografischen Traumata, also dem Scheitern seiner kriegerischen Befreiungstaten und noch mehr dem von ihm mitverschuldeten Tod seiner Geliebten Diotima. Im Laufe des Schreibprozesses findet der Erzähler in einer Art kreativer Selbsttherapie zu einer souveränen, gereiften Lebenshaltung, in welcher er sich als Dichter und Volkserzieher erkennt. Ein ähnliches Setting haben wir im  manía-Projekt dramaturgisch umgesetzt: Unser Hölderlin im Turm wird an seine dichterische und biografische Vergangenheit erinnert – erst wird er davon unwillentlich überwältigt, mit der Zeit greift er in diesen Prozess mehr und mehr aktiv ein… Am Ende steht allerdings die Frage, wie weit Hölderlins poetisches Konzept der „idealischen Auflösung“ trägt und ob nicht letztlich etwas ganz Anderes geschehen muss, damit (s)ein Trauma überwunden werden kann.

Hölderlin und die Frauen

Letztere Frage stellen wir vor allem, indem wir die Mann-Frau-Dynamik (bei Hölderlin) ins Zentrum rücken. Hölderlins Leben war vor allem durch Frauen geprägt (sein leiblicher Vater starb als er zwei, sein Nürtinger Stiefvater als er neun Jahre alt war). Diese Frauen waren allen voran: seine Mutter, Johanna Gok, und seine Geliebte Susette Gontard, eine Frankfurter Bankiersgattin und dreifache Mutter. Die Liebe zu Susette entspann sich, als Hölderlin Anfang 1796 Hauslehrer bei den Gontards wurde. Fast zwei Jahre lebten die beiden unter einem Dach; einige Monate waren sie mit den Kindern und einigen anderen Verwandten und Bediensteten, aber ohne Susettes Ehemann Jakob, auf einer kriegsbedingten Reise – dies war ihre glücklichste Zeit. Als im September 1798 das Verhältnis aufflog, verließ Hölderlin in Affekt das Haus und zog zu seinem Freund Sinclair ins nahe Bad Homburg. Fortan trafen die Liebenden sich höchstens ein Mal im Monat heimlich in Susettes Garten und tauschten Briefe.

Warum die beiden letztlich nicht zusammenkamen, hatte sicher zunächst ganz handfeste Gründe: Susette wagte – im Unterschied zu anderen berühmten Frauen ihrer Zeit wie die selbstbewusste Caroline Schlegel – nicht, für die große Liebe ihre Familie zu verlassen. Das hatte wohl auch materielle Gründe: Wovon sollten sie leben? Hölderlin hat nach der Aufgabe der Hauslehrerstelle nur geringe Ersparnisse und er benötigte einen Vorschuss aus dem Erbe seines Vaters, den ihm seine Mutter „großzügig“ gewährte. Alle Hoffungen Hölderlins eine selbstständige materielle Existenz in dieser Zeit aufzubauen zerschlugen sich. Dabei war Hölderlin durch sein Erbe eigentlich ein reicher Mann. Doch seine Mutter hielt eisern ihre Hände über das Geld und knüpfte die Freigabe des Vermögens ihr Leben lang an eine „kleine“ Bedingung: Hölderlin musste Pfarrer werden. Dem verweigerte sich Hölderlin vom Anfang seiner Priesterausbildung an. Dieser Konflikt zwischen Mutter und Sohn durchzieht die gesamte dichterisch produktive Zeit Hölderlins - bis zu seiner Zwangseinweisung ins Tübinger Spital im Jahr 1806. Festgehalten werden kann: Hölderlin schaffte es nicht, sich gegen seine Mutter durchzusetzen, selbst dann, als es um seine große Liebe ging. Für uns ist all dies zugleich Ausdruck tieferer Konflikte, die Hölderlin mit „seinen“ beiden Frauen hatte. In ihnen treten elementare Verstrickungen der Mann-Frau-Mutter-Beziehung hervor, die für uns auch heute noch gültig sind und die wir versucht haben, szenisch auf den Punkt zu bringen.

Eine neue Diotima?

Auffällig an Hölderlins Werkgeschichte ist, dass nach dem „Hyperion“ keine erotische Mann-Frau-Beziehung mehr eine zentrale, sprich wirklich tragische Rolle spielt. In den auf die Trennung von Susette reagierenden Gedichten, spricht das lyrische Ich seine unermessliche Trauer über den Verlust der Diotima aus und es sucht am Ende Trost in seiner neuen Rolle als Dichter, der auch in die „andere“ Welt hinüberzuschauen weiß. In seinem dramatischen Empedokles-Projekt konfrontiert Hölderlin seinen Helden zwar mit den politisch und religiös Herrschenden, aber nicht mehr mit einer ebenbürtigen Frau. Empedokles sucht stattdessen seine Herausforderung letztlich in der tragischen Begegnung mit dem Göttlichen bzw. Unendlichen und springt in den Ätna. In einer seiner letzten Arbeiten vor der Turm-Zeit, seiner Übersetzung von Sophokles „Antigone“, steht die Heldin im Konflikt zwischen den Gesetzen des Staates und denen der Unterweltgötter. Antigones Beziehung zu ihrem Geliebten verschärft zwar die Tragik des Geschehens, macht sie aber nicht aus.

Wie steht es nun aber mit der Liebesbeziehung im „Hyperion“? Diotima ist ihrem Geliebten überlegen und unterlegen zugleich: Sie ist ihm überlegen, weil in ihr noch eine unversehrte Seligkeit lebt, die Hyperion teilweise zwanghaft in den Bann zieht. Sie ist diesem unterlegen, weil Hyperions irrender Geist auf sie zerstörerisch wirkt. Sie hat deshalb letztlich auch keine Macht über ihn, kann ihn nicht von seinen fatalen kriegerischen Taten abhalten und ist doch zugleich von seinen destruktiven Tendenzen so affiziert, dass sie letztlich daran zugrunde geht. Anders als Hyperion entwickelt sich Diotima deshalb auch durch die Liebesbeziehung nicht wirklich weiter; sie versteht zwar, sich mehr und mehr verbal zu artikulieren, letztlich stirbt sie aber und findet lediglich Trost in ihrer seligen Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit ihm in einer „anderen“ Welt. Hyperion dagegen entwickelt sich durch diese Liebesbeziehung und letztlich gerade durch ihr tragisches Ende zumindest teilweise weiter: Indem er sich nach einiger Zeit – wie oben schon beschrieben – diesem ungeheuren Schock schreibend stellt, gewinnt er ein höheres Bewusstsein. In der Erinnerung an die dunkelste Nacht seines Lebens erkennt er, dass das Leiden nicht nur zum Menschen, sondern auch zum Leben der Gottheit, also der „heiligen Natur“ notwendig gehört. Fortan prägt ihn zwar eine (über)stoische Ruhe, die ihn zum Dichter befähigt. Auch zeigt er sich fortan als satirisch-bissiger Kritiker der bestehenden Verhältnisse und erweist sich so zudem als aktiver Volkserzieher. Doch eine neue Liebesbeziehung zu einer ebenbürtigen Partnerin kommt in dem Roman nicht mehr in Blick – außer der erhofften Vereinigung mit Diotima in der „anderen“ Welt.

An eine erfüllende erotische Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau auf Augenhöhe im Hier und Jetzt scheint Hölderlin am Ende des „Hyperion“ und auch in den nachfolgenden Dichtungen nicht mehr zu glauben. Der Tod der Diotima ist für Hölderlin letztlich nur ein scheinbar notwendiges Opfer für die Selbstverwirklichung des Mannes, der zum Dichter und Volkserzieher berufen ist. Da stellt sich natürlich – ganz am Ende – die Frage, ob Hölderlin das Potential der Diotima-Gestalt, die bei Platon ja noch eine souveräne Liebeslehrerin war, wirklich ausgeschöpft hat. Mit Hölderlins Diotima-Figur ist jedenfalls für uns das letzte Wort in dieser Frage nicht gesprochen. Wir fühlen uns vielmehr gefordert, nach einem ganz anderen Weg zu suchen, wie eine Frau einen Mann dabei unterstützen kann, zu einem (selbstständigen und liebenden) Mann zu werden – und sei dieser auch der großartigste Dichter.

©  Thomas Oser, November 2008